Kriegskinder - gestern und heute

Arbeitsgruppe: Kriegskinder - gestern und heute

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"Wo seid Ihr?"

"Heldengedenken" - eine Selbst-Erfahrung

Helga Spranger

- im Plenum -

Aufforderung

Der Titel "Heldengedenken" neigt verführerisch dazu, sich gedanklich in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Bitte, lösen Sie sich aus dieser Schablone.- Ich möchte mit Ihnen über die verstummten Opfer der Kriege arbeiten. Ich möchte mit Ihrer Hilfe herausfinden, ob es möglich ist, diesen Helden eine bleibende Sprache ohne Worte zu verleihen .

Die meisten unter Ihnen haben sicher schon einmal die Feststellung treffen müssen, dass bewußtes Denken mit einem höheren energetischen Aufwand verbunden ist als Fühlen. Fühlen und Empfinden begleitet unser Handeln meistens, ohne dass wir es registrieren. Es durchdringt die einzelnen Ereignisse unseres Lebens und verkittet die wichtigsten zu unauslöschlichen Erlebnisspuren.
Mitunter erinnern wir uns zwar nur noch undeutlich an Handlungsteile oder Ereignis - Abschnitte, jedoch um so deutlicher an Basisgefühle wie Unbehagen, Angst, Schrecken, Trauer oder Freude. Nicht immer gelingt es uns mir Hilfe des bewußten Denkens zurückschauend rekonstruierend beide Bereiche wieder zusammenzufügen.

Vater oder Mutter übersetzen die geweinten Klagen ihres Babys in ihre Erwachsenensprache. Sie stellen einen realen Bezug her und können so das Unwohlsein des Kindes verändern oder beenden.
Das Kind ist nicht imstande, seinen Schmerz in die "Begrifflichkleit" zu überführen; es ist zu klein und daher der Erwachsenen - Sprache noch nicht mächtig.

Wir wissen heute, dass auch Erwachsene nach massiven seelischen Belastungen "der Sprache nicht mehr mächtig" sind, sie werden "sprachlos" und finden erst wieder sprachlichen Zugang zu dem Ereignis, wenn auch der seelische Zugang nicht mehr blockiert ist.

Ich möchte heute und morgen mit Ihnen verborgene Gefühle und Empfindungen, die Sie mit Ihrem Erleben des Tagungs - und Gruppenthemas verbinden, sichtbar werden lassen.
Wir werden uns vorübergehend auf den Weg rückwärts nach Innen begeben um herauszufinden, welche Gefühle uns immer noch bewegen und welcher wir künftig "gedenken" wollen.

- in der Gruppe -

Annäherung

Sieben Tagungsteilnehmer zwischen 53 und 70 Jahren, 2 Männer und 5 Frauen hatten Interesse an dieser Gruppenarbeit. Keiner konnte sich vorstellen, zum Thema Heldengedenken etwas ausdrücken zu können.
Wir wandten uns zunächst in einer Imagination der "Fahrt" in das Vergangene zu. Die einzelnen Teilnehmer spürten in der Stille zeitlich rückwärts schreitend ihren erlebten Jahren nach.
Die akustische Stille veränderte sich deutlich hin zu einer intensiven Konzentration mit starker emotionaler Reaktion

Unmut
Blau positiv
Unmut
Mangelnde Geborgenheit
39' TRAUER-TOD-ANGST 46....SCHWEIGEN 01 !
bitte, bitte - alles zugedeckt sein lassen
Angst - Einsamkeit - Scham
Freude - Leid
Mitfühlen
Scham - Angst - Wegrennen

- Am Flipchart erschienen die Assoziationen in verschiedenen Farben und Schriftformen

Erster "sprachloser" Ausdruck

Noch in der gleichen Sitzung, unmittelbar nach der Imagination übertrugen die Teilnehmer ihre symbolhaften gedanklichen Empfindungsbilder ohne weitere verbale Vorstrukturierung auf weißes Tapete. Jeder konnte sich das Tapetenformat und die Malutensilien selbst heraussuchen. Dabei fiel auf, dass fast alle mit Fingerfarben und /oder dicken Pinseln arbeiteten.
Die Farben flossen schnell aus den Händen, so daß bereits nach 25 Minuten die Bilder zur Eingangs - Imagination vollendet waren.

Wie tönende - Phantasien über das Thema hörten sich die Titel der sehr ausdrucksstark gestalteten Bilder an:

" ich träume positiv Denken"
"es ist alles im Fluss, Freude und Leid"
"Es ist ein Einfall oder auch Scham, Angst und Wegrennen"
"bitte, bitte alles zugedeckt lasen, tausend Tode und doch lebendig"
"Unmut, mangelnde Geborgenheit, - Sternschnuppe"
"Angst, Einsamkeit, Scham zu Liebe im Leben"
"Trauer, Tod, Angst, Schweigen; Krieg zerreist Leben lebenslang"

Die erste von drei intensiven 2-stündigen Sitzungen endete bewegt. Es hatte sich bei allen Gruppenmitgliedern aus dem Verborgenen etwas ereignet

Einordnen

Am nächsten Tag wurden noch einmal die Bilder angeschaut. Inzwischen waren zu den Bildern bei den einzelnen Teilnehmern noch viele Einfälle, Gefühle und Assoziationen hinzugetreten. Konkrete Erinnerungen fingen an, sich zu bahnen. Dennoch verdeutlichte sich das Bestreben, im Abstrakten, Symbolischen zu verharren

Nachdem die individuell gestalteten Bilder zur Seite gelegt werden konnten, vollzog die Gruppe den Schritt vom individuellen Gestalten zum bevorstehenden gemeinschaftlichen Zusammenfügen eigenen Erlebens.
Sie assoziierte in einer langen Phase gedanklicher Vertiefung Empfindungen zum eigentlichen Thema "Heldengedenken".

"Tränen
Anerkennung des Unsagbaren
Abgrund des Schrecklichen
Abgrund aufdecken
Trauerarbeit
Gewalt
Ausdruck des Unsäglichen
Wem nützt das "Heldengedenken"?
Aufheben des Beschweigens
Bitte aufdecken!
Aushalten im Hinhören
Gesellschaftliches Tabu brechen"

Konkretisieren

15 Kilo Ton mussten mit Schamott "durchgearbeitet", werden, damit die plastische Arbeit nach dem Trocknen gebrannt werden könnte. -Gedankliche Mühen wurden in körperliche Arbeit überführt!

In eine kurze Pause der Unschlüssigkeit fiel plötzlich irgendwo -fast gemurmelt, der Begriff "Abgrund", " wir brauchen Felsschluchten!"

Außerordentlich schnell entstanden auf nun auf einem stabilen Unterbau zwei sich nicht berührende Tonwände. die ihren tiefen Einschnitt himmelwärts gerichtet zeigten.

Als ob eine Schleuse geöffnet worden war, wurden Tonplacken- und Würste mir einer enormen Schnelligkeit geknetet und in freier Entwicklung an die "Felswände" gelehnt, anschließend mit Wasser und weiterem Ton verbunden. Alle beteiligten sich. Immer wurde sehr genau darauf geachtet, dass die "Felsschlucht keinesfalls zugebaut werden dürfte.

Plötzlich ergaben sich stützende runde Säulen, nicht sehr verschieden in ihrer Mächtigkeit. Sie hatten Verbindung mit der Basis, lehnten sich an und bewegten sich alle auf die "Abgründe" und "Felsschluchten" zu. Wie auf Anweisung verloren die Säulen ihre geometrische Form und veränderten sich zu körperhaften Gestalten.

Die nach außen gerichteten Rundungen fingen an, wie menschliche Rücken zu wirken......

Die Gestaltung der Einzelteile vollzog sich in konzentrierter Stille.

Zuschauer

Unnötige Worte wurden nicht gewechselt.
Spannung verbreitete sich bei Allen in der Vorstellung, wie sich diese Plastik schließlich selbst beenden würde.
Die anfängliche Skepsis, mit den Händen und einem völlig fremden Medium etwas Gefühltes ausdrücken zu können, wich zunehmend einer sehr dichten Arbeitintensität. Fast gütig wurden die einzelnen Plastikteile wieder und immer wieder verankert, eingebunden und geglättet..- Es schien als ob der Arbeitsraum viel wärmer geworden wäre.

Unaufhaltsam entwickelte sich eine Körpergruppe: kleine und große Körper, deren Innenseiten und Gesichter sich zu den "Spalten und Felsen" nach innen beugten, ihre Gesichter unter und hinter anderen Leibern zu verbergen suchten und nach außen nur ihre Rücken preiszugeben schienen.

Unerwartet ereignete sich eine Wendung zum Ende: Waren bisher die Leiber an den Felsen, die die entstehende Plastik bestimmenden Elemente gewesen, so erschien nun plötzlich eine "Schlange", die sich von hinten oben mit dem Kopf nach vorne über "Felswände" und "Leiber" legte
Die Plastik war vollendet..

Erstaunen

Berührt und irritiert durch die letzten 45 Minuten verließ die Gruppe den Arbeitsraum

Sammlung

Aus der immer noch erregten Stille formten sich Worte zu dem, was die eigenen Hände geformt und die Augen nun mit Abstand wahr nahmen

"Opfer"
"Tod, wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg"
"Leiden"
"Tanz auf dem Abgrund"
"Geborgenheit suchen"
"Leichenhaufen"
"Wo seid ihr?"
"Höllenschlund"
"ich will euch trösten"
"Vielfalt des Lebens und es Sterbens"

Die Assoziationen verdichteten sich. Die Plastik erhielt den Titel: wo seid ihr?

Es blieb im Raum verborgen, wer er gemeint sein könnte; auch wurde die Frage nicht beantwortet.

Abschied

"mir geht es sehr gut, ich machte eine Entdeckung"
"ich dachte, es wird groß über Helden gesprochen?"
"froh in der Gruppe, ich konnte sprechen, habe Zuhörer gefunden, und die "Fahrt zurück!""
"Es war ein langer Weg vom "Helden" bis "Wo seid ihr""
"Oh Gott, jetzt erwischt's mich", jetzt etwas unheimlich Schöne und Gutes, das Zustande kommen, ein Wunder"
"Zuhören ist anstrengend, handeln können ist erlösend"
"ich bin ganz und gar traurig"

Die sich - zuerst fremd und allein- gefühlt hatten, verließen die Gruppe in dem Gefühl, Teil geworden zu sein und Teilnahme durch die Anderen erfahren zu haben.
Jeder hatte seine An -Teilnahme und seine innere Bewegung zulassen können.

Wir haben die Plastik nicht gedeutet

Der Abschied voneinander geschah in stillem Einvernehmen.

 

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Letzte Änderung: 16. April 2002
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